| für Ensemble und Live-Elektronik |
| Fl/Picc, Ob/Eh, Tp/Kornett, Pos, Perk, Vc |
| 11:30 min. |
| 1998 |
| Partitur |
| variabel   bestellen |
| TPV.S1-016 |
| Stimmensatz |
| 22,35   bestellen |
| TPV.S1-016S |
"St Vitus’s Dance" ist das dritte Stück, in dem ich Elektronik verwende. Im ersten, "Erdenklänge" (1996) für 18 Instrumentalisten und Tonband, machten bestimmte Klangvorstellungen den Einsatz eines Zuspielbandes nötig. Das zweite Stück, "breathe" (1997) für Oboe und Tonband, basiert auf der Idee, der live gespielten Oboe elektronisch bearbeitete Oboenklänge gegenüberzustellen. Immer entstand dabei das Problem der Koordination von Live-Musik und Tonband, weswegen ich mich nun, im dritten Stück, der Live-Elektronik zuwende.
Elektronik integrieren
Bei allen Stücken war es mir ein Anliegen, die elektronischen Klänge so zu gestalten, dass diese nicht wie so oft seltsam außerhalb der restlichen Klanglichkeit stehen, sondern dass sie sich mitten in ihr befinden, ohne dabei eine bloße Reproduktion bekannter Klänge zu sein. Da die Instrumente nicht mehr weiterentwickelt werden und auch keine neuen erfunden werden, verstehe ich die Elektronik als diese Weiterentwicklung.
Klangliche Ebenen
Das musikalische Material ist im Detail äußerst einfach und klar, Komplexität wird durch Überlagerung erreicht. Es gibt vier Ebenen: Die TONLOSE EBENE setzt sich aus Klängen von geriebenen Fellinstrumenten (Bongos, Kl. Tr.) und dem tonlosen Spiel der übrigen Instrumente zusammen. Anfänglich eher flächig eingesetzt wird diese Schicht rhythmisch immer klarer und bildet dann zusammen mit der AKKORD-EBENE einen rhythmischen Hintergrund, der im Verlauf immer bestimmender wird. Das Hauptinstrument der AKKORD-EBENE ist das Violoncello, später beteiligen sich auch Flöte, Oboe und Trompete an dieser Schicht. Eine weitere Ebene besteht ausschließlich aus übermäßigen Akkorden, bei denen ein oder zwei Töne vierteltönig abweichen. Ein solcher Akkord hat zwar noch die Farbe eines Übermäßigen, schimmert aber auch in Richtung Dur bzw. Moll. Die EBENE DER ÜBERMÄSSIGEN AKKORDE liegt immer in den Bläsern. Schon bald wird allerdings die akkordische Darstellung aufgegeben, und die Akkorde erscheinen in gebrochener Form in Oboe und Posaune. Die vierte Schicht, die FLGEOLETT-EBENE, setzt sich zunächst aus arco und pizzicato vorgetragenen natürlichen Flageoletten des Violoncellos zusammen und hat dadurch eine pentatonische Farbe. Sie wird in der Flöte und danach in der Posaune in stark variierter Form fortgeführt, was als improvisatorisches Element gegenüber der strengen Behandlung der übrigen Schichten verstanden werden kann.
Steigerungsform
Alle Ebenen außer der EBENE DER ÜBERMÄSSIGEN AKKORDE erfahren die gleiche Veränderung in Richtung Bewegung und Fluss. So werden in der AKKORD-EBENE mehr und mehr Skalen zur Verbindung der Akkordtöne eingesetzt, bis diese das gesamte Bild bestimmen. Ebenso verhält es sich mit der TONLOSEN EBENE. Die Entwicklung geht hier von der Fläche hin zu skalenhaftem Spiel der Bongos durch modulierte Tonhöhen. Das Stück beginnt also in einem ruhigen, statischen, durch das harmonische Material (Pentatonik, Übermäßige) beinahe archaischen Zustand und wird immer rhythmischer und bewegter. Hier hat die Elektronik die Aufgabe, den Höhepunkt dieser Entwicklung in einem Bereich der Dichte anzusiedeln, den die sechs Instrumente alleine nicht erreichen könnten. Darüber hinaus schafft sie einen Übergang zu einem Schlussteil, der aus Anklängen an Elemente früherer Entwicklungsstadien des Stückes geformt ist, allerdings durch die Elektronik gänzlich anders beleuchtet.
Veitstanz
Für den Schluss spielt die TONLOSE EBENE die wichtigste Rolle. Was bis hierher den ganzen Formteil bestimmte, also Fläche – Rhythmus – Skala, bestimmt jetzt die Einzelelemente. Dadurch ergibt sich das Bild einer Fläche, die von akzentuierten Ereignissen durchzuckt wird. "St Vitus’s Dance" (Veitstanz) wird als das Auftreten von ruckartigen Muskelzuckungen bei gleichzeitig schlaffer Muskulatur beschrieben.
Joachim F.W. Schneider